Der Mythos vom Über-Gründer

In Deutschland scheint das Gründen ein besonders schwerwiegender Akt zu sein. Das fängt schon mit dem Wort „Existenzgründung“ an: Während der Amerikaner „ein Geschäft beginnt“ (starting a business) oder „sich selbst anstellt“ (being self-employed), der Franzose sich „unabhängig macht“ und „auf eigene Rechnung arbeitet“ (indépendant, être à son compte) und der Italiener „sich richtig stellt“ (mettersi in proprio), muss der Deutsche erst mal seine Existenz gründen. Uff.

Anscheinend hat er vorher nicht existiert. Vielleicht soll „Existenzgründung“ aber auch bedeuten, dass er seine Existenz auf etwas gründet, auf eine solide Basis stellt. Das klingt doch schon besser.

Das Wort „Existenz“ gibt es im Deutschen erst seit dem 17. Jahrhundert. „Existieren“ kommt vom lateinischen „ex(s)istere“ und bedeutet „herauskommen, zum Vorschein kommen“. Das passt, denn als Existenzgründer wirft man sich selbst, seine Produkte und Dienstleistungen auf den Markt. Man macht sich sichtbar, räkelt sich auf dem Präsentierteller, stellt sich dem Urteil anderer, geht auf die Welt zu.

Gründen ist mutig, gefährlich und ganz eindeutig verrückt

Das ist sicher im Land der Bedenkenträger noch mal schwieriger als anderswo. Selbstständig sein ist in Deutschland nicht die Norm. Das merkt jeder, der gründen will – denn er oder sie muss sich immer wieder anhören, wie mutig, gefährlich und ganz eindeutig verrückt ein solches Vorhaben ist.

Die politisch und gesellschaftlich vorgegebene Norm ist schließlich das sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnis, also der Angestelltenjob. Das ist übrigens nicht überall so. Als Land mit der höchsten Selbstständigenquote gilt – na?

Uganda! Nicht unbedingt das Land, an das man als erstes denkt, oder? Vermutlich ist es dort einfacher, beispielsweise einen Friseurladen aufzumachen als hierzulande: Ein Stuhl, Schere und Rasierer – fertig ist das Business. OK, das ist sicher eine etwas romantische Vorstellung. Wahrscheinlich gibt es einfach keine Angestelltenjobs, so dass die meisten Ugander zwangsweise selbstständig sind.

Selbstständig oder unselbstständig?

In Ländern ohne soziales Auffangnetz ist man seit jeher gezwungen, für sich selbst zu sorgen. Nichts anderes bedeutet Selbstständigkeit. In Deutschland hingegen ist der Großteil der Erwerbstätigen „abhängig beschäftigt“.

Laut Eurostat waren 2010 lediglich 10,5 Prozent der Deutschen selbstständig – im EU-Durchschnitt waren es 14,5 Prozent.

Anders bei den Griechen: Fast 30 Prozent aller Erwerbstätigen sind ihr eigener Chef. Vor der Aufnahme Griechenlands in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1981 war sogar jeder zweite Unternehmer – die meisten vermutlich in Landwirtschaft, Handel und Tourismus.

Auch Italiener, Rumänen, Polen, Portugiesen und Tschechen haben oft eine eigene Firma – mit Angestellten oder ohne: Die Selbständigenquote liegt dort zwischen knapp 23 und 17 Prozent. Unsere Nachbarländer Österreich und Frankreich bewegen sich auf vergleichbarem Niveau wie Deutschland.

Selbständig mit Exotenbonus

Da das Unternehmertum nun in Deutschland Seltenheitswert hat, genießt es einen gewissen Exotenbonus. Nicht nur, dass man aus dem gängigen Erwerbsschema herausfällt – als Gründer gehört man angeblich auch einer besonderen Spezies an.

Denn kein Existenzgründerseminar, kaum eine Gründerwebsite kommt ohne den obligatorischen Test aus, bei dem die „Gründerpersönlichkeit“ auf Herz und Nieren geprüft wird: „Bin ich ein Unternehmertyp?“

Liest man sich die Fragen durch, so stellt man fest: Als Gründer muss man ein besonders perfekter Mensch sein, ein Übermensch im Sinne Friedrich Nietzsches: ein ’idealistischer’ Typus einer höheren Art Mensch, halb ’Heiliger’, halb ’Genie’. Eben ein Über-Gründer.

Sind Sie ein Über-Gründer?

In diesen Tests werden Fragen gestellt wie: „Gehen Sie gern Risiken ein und können Sie Unsicherheit aushalten?“ Eine ziemlich lustige Frage, wenn man weiß, dass es Teil der deutschen Kultur ist, Risiken zu vermeiden.

Außerdem: Ist es wirklich eine positive Eigenschaft für einen Unternehmer, hohe Risiken einzugehen? Sind das nicht eher die Unternehmer und Manager, die irgendwann im Gefängnis landen?

Klar ist das Unternehmertum an sich ein Risiko. Dennoch kann man, wenn man der Typ dafür ist, alles tun, um Risiken abzufedern. Jemand, der seine Produkte und Dienstleistungen vorab testet oder als Berater seinen bereits vorhandenen Kundenstamm mitnimmt, ist doch ziemlich clever, oder?

Frauen sind risikoscheu – und oft erfolgreich

Frauen sagt man ja nach, eher risikoscheu und daher vorsichtig beim Gründen zu sein, sich stärker abzusichern, mit dem Unternehmen langsamer wachsen zu wollen – und gerade deshalb sind sie langfristig oft sehr erfolgreich.

Die nächste Frage im Gründertest: „Sind Sie bereit, die nächsten Jahre sehr viel zu arbeiten und auf Urlaub zu verzichten?“

Ui, das klingt abschreckend! Vor allem für jemand, der als Angestellter seine 6 Wochen Urlaub (auch noch bezahlt!) gewohnt ist.

Es stimmt ja: Man arbeitet mehr (eben „selbst und ständig“, wie der Volksmund sagt) und hat vielleicht weniger Urlaub. Die Arbeit fühlt sich aber ganz anders an, wenn man sein eigenes Ding macht. Und da man die Herrschaft über seine Zeit (um nicht zu sagen über sein Leben) zurückgewonnen hat, verliert Urlaub ein bisschen seine Dringlichkeit.

Stattdessen kann man jederzeit ein Eis in der Sonne genießen, einen Arbeitstag ins Café verlegen, spontan einen Spaziergang machen oder mal ein verlängertes Wochenende dazwischenschieben, quasi als Mini-Urlaub.

Hat man einen Job, den man gut vom Laptop aus erledigen kann, ist man ortsunabhängig und kann theoretisch auch vom Strand aus arbeiten – die digitalen Nomaden machen es vor. Das alles kann man sich aber schwer vorstellen, wenn man noch nie selbstständig war – daher befragt man hier einen Blinden zu den Farben.

„Wie sieht es mit Ihrer körperlichen Gesundheit und Fitness aus?“ Lassen Sie mich raten: Ein Über-Gründer hat nicht nur die geistige Größe von Albert Einstein, sondern auch die Konstitution von Arnold Schwarzenegger?! Nun, es gibt sogar Schwerbehinderte, die gründen – gerade weil sie auf dem konventionellen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Die Selbstständigkeit mit ihrer freien Zeiteinteilung macht es Menschen mit gesundheitlichen Problemen möglich, in den Hochphasen zu arbeiten und sich wenn nötig zwischendurch auszuruhen. In den meisten Festanstellungen ist das unmöglich.

„Können Sie sich gut verkaufen?“

Ganz ehrlich: Wer ist schon dafür geboren? Wohl die wenigsten. Viele Menschen kostet es Überwindung, für sich selbst zu werben. Aber man kann es lernen. Man lernt als Gründer zwangsläufig die eigenen Stärken und Schwächen kennen, da man sich hinter nichts und niemandem mehr verstecken kann.

Was also sollen diese Fragen? Sie jagen potenziellen Gründern eher Angst ein, statt ihnen Kraft und Hoffnung für ihr Unterfangen zu geben. Ich schlage daher einen alternativen Gründerfragebogen vor:

  • Möchten Sie sich aussuchen können, mit wem sie wann und wie zusammenarbeiten?
  • Verfügen Sie über einen gesunden Menschenverstand?
  • Sind Sie bereit, verantwortungsvoll über ihre eigene Zeit zu verfügen?
  • Sind Sie willens, Ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?
  • Möchten Sie Ihre eigene Welt gestalten?

Ich glaube, über diese Fragen nachzudenken, würde mehr Menschen Mut zur Existenzgründung machen.

Gründen ist kein Hexenwerk, sondern neben viel Stress auch eine Zeit voller Glücksmomente. Ich glaube sogar, dass die Selbstständigkeit eine besonders natürliche und authentische Art zu leben ist. Und dafür muss man kein Über-Gründer sein.

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